Auch später lächelte er. Er lachte gern. Seine Augen lachten gern. Er schien stets auf der Sonnenseite zu stehen. Das war das, woran ich mich als Erstes erinnerte, an diesem Sonnentag, 17 Jahre später, im Februar, vor 7 Wochen. Ich wollte das Haus verlassen, die Haustür stand offen, ich konnte sehen, wie die Vorfrühlingssonne den frischen Rasen im Hof anleuchtete, ging zum Briefkasten, erwartete nichts, vielleicht irgendeine Rechnung oder etwas Amtliches, aber es war nur Werbung in der Box, dahinter, leicht versteckt ein großer Briefumschlag, es musste eine Karte darin sein, handgeschrieben, das war ungewöhnlich, ich hatte weder Geburtstag, noch erwartete jemand in meiner Verwandtschaft ein Kind, es gab keinen Grund für einen handgeschriebenen Umschlag, um in meinem Briefkasten zu sein, es gab keinen Grund, eigentlich durfte er gar nicht da sein, ... und ich fasste diesen Brief an und verlor den festen Grund, den Boden unter den Füßen und es wurde mir unsäglich traurig ums Herz, als ich die Handschrift von Eurydike sah, und es musste etwas geschehen sein, es wurde mir unheimlich, bang werden solche Briefe geöffnet, beklemmend das Gefühl, weil nichts anderes darin stehen wird, als das zu vermuten war, das unausweichliche, unabänderliche, die Karte in dem Brief, das Bild von Orpheus, das mir erschien wie eine Totenmaske, das Todesdatum, das Datum der Beerdigung, die Flut der Bilder, die jetzt auf mich einstürmten. "Das hätte es nicht gebraucht," hörte ich mich denken, wieder und wieder, "Nein, nicht Orpheus, warum ausgerechnet er?"


Erschienen 6/2007

Peter Heinrichsen

Orpheus von Mühltal

Sammelband Gedichte, Chansons, Kurzgeschichten, XtraSmallStories

36 S. Din a 4, € 9,80, kartoniert, geheftet

ISBN 978-3-938919-05-7

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Orpheus, eine Figur aus der griechischen Mythologie, ist Titel und geheimnisvoller Mittelpunkt der Novelle zugleich. Eine Figur die viele Rätsel hinterlässt und keine Antworten mehr geben kann, denn der Tod ist endgültig! Antworten auf die Fragen: ?Warum stirbt ein Mensch?" ... ?Was ist das Licht, dass uns am Leben hält?" und, ?Warum beendet ein Mensch sein Leben durch den ?Freitod'?"

Wollte er das? Kann das überhaupt jemand wollen?

Es entsteht eine Geschichte über den Menschen Orpheus, der wie ein Paradiesvogel, zart und flatternd erscheint und der rauen, bunten Welt um ihn herum zu trotzen scheint, ihr die Stirn bietet. Er erweckt nicht den Eindruck eines Lebensmüden, ganz und gar nicht, und das macht seinen Entschluss so schwer fassbar. Dinge müssen in ihm vorgegangen sein, sich Abgründe aufgetan haben, die allen anderen um ihn herum verborgen geblieben sind. Der Autor geht der Frage des für alle unerklärlichen Todes nach, indem er das Leben des Orpheus als Außenstehender, als Freund beleuchtet.

Er fokussiert die Personen, die mit Orpheus in Kontakt standen, hinterfragt sie und lässt sie wieder los, immer auf der Suche nach dem ?warum?". Aber das auf eine Art und Weise,die gefühlvoll, ja fast zärtlich wirkt, aber auch brutal ehrlich ist und in ihren Beschreibungen der Personen scheinbar wenig auslässt.

So findet man sich in einem München wieder, das von zwielichtigen und schrägen Personen belebt wird, die in Szene-Cafés und Hinterhauswohnungen ein und aus gehen. Ein München, das vielen Bewohnern wohl eher verborgen bleibt.

Auch die kleine Familie, die sich Orpheus aufgebaut hat, mag eine wichtige Rolle gespielt haben bei seinen Beweggründen. Vielleicht konnte er in der bürgerlichen Atmosphäre nicht atmen. Vielleicht hat sie ihm, dem Vogel, die Flügel gestutzt. Oder er ist an dem Zerbrechen, am Scheitern seiner Beziehung mit zerbrochen, gescheitert.

Alles Fragen, die bleiben werden und die schmerzen. Was aber daraus erwachsen kann, kann man in der Novelle sehen. Das Ende ist immer der Anfang von etwas Neuem ...

FLorenz